Ob „Schlagerskala“ oder Bundesliga-Schlusskonferenz: Das Radio trug die Jugendlichen der 60er- und 70er Jahre in eine andere Geisteswelt, beschwor metaphysische Gefühle herauf, bot individuelle Rückzugsmöglichkeiten. Und brachte manchmal auch die ganze Familie zusammen.

Stuttgart - Rundfunkgeräte waren in meiner Jugend nichts Außergewöhnliches mehr. Von ihnen ging kein magischer Zauber mehr aus, keine revolutionäre Anmutung, wie sie Thomas Mann etwa in seinem Roman „Der Zauberberg“ beschreibt, als Hans Castorp in die faszinierend neue Welt des Grammophons eintritt. Der dunkelbraune Musikschrank meiner Eltern – gab es auch Musikschränke in anderen Farben? – und das Kofferradio in Mutters Küche erschienen einem Kind des Wirtschaftswunders als Normalität, als technische Errungenschaften, ohne die man sich ein sinnvolles Leben gar nicht vorstellen konnte. Ein Radiogerät zu besitzen, das versprach in den sechziger Jahren nichts Aufregendes – anders als der allererste Fernseher, diese, so die Eltern gewichtig, „teure Anschaffung“, die „Bonanza“, „Auf der Flucht“ und den „Goldenen Schuss“, die Hoss Cartwright, Richard Kimble und Lou van Burg in unser Wohnzimmer brachte. Der Fernseher, Barometer für den aufkeimenden Wohlstand, gehörte allen, was nicht hieß, dass es für ein Kind leicht gewesen wäre, Programmentscheidungen durchzusetzen. Der Wunsch, bestimmte Sendungen zu sehen, musste behutsam vorgetragen werden, und wenn es gelang, die Mutter von der Notwendigkeit einer Krimifolge zu überzeugen, standen die Chancen nicht schlecht, Vaters festgefahrene Sehgewohnheiten umzustürzen.