Der ehemalige Ministerpräsident Günther Oettinger überrascht bei „ StZ im Gespräch in Esslingen“ mit Bekenntnissen aus seinem politischen Werdegang.

Esslingen - Schlank und rank. Blauer, perfekt sitzender Anzug. Die Frisur noch perfekter sitzend – kein Zweifel: Der Mann, der sich da vor rund 90 Leserinnen und Lesern in den Redaktionsräumen der Stuttgarter Zeitung in Esslingen den Fragen des Büroleiters Kai Holoch stellt, sieht aus wie Günther Oettinger, der ehemalige Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg und vor Kurzem aus dem Amt geschiedene EU-Kommissar.

 

Aber ist er’s wirklich? Das fragt sich das Publikum schon nach wenigen Minuten. Kann es sein, dass hier der Politiker steht, der in den Medien immer so hölzern, so knochentrocken, ja beinahe karikaturesk rüberkommt? Ist das der gleiche Mann, wie der, der an diesem Dienstagabend so zugewandt und locker, klar und strukturiert aus seinem Leben und aus dem politischen Nähkästchen plaudert?

Die Ambivalenz in die Wiege gelegt

Natürlich ist er’s. Günther Oettinger, 66 Jahre alt. Der CDU-Politiker, der unter anderem als ehemaliger Landesvorsitzender der Jungen Union den Rücktritt des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl wegen Führungsschwäche und Konzeptlosigkeit gefordert hatte. Der als Streiter für die Schuluniform Aufsehen erregt hatte. Der Anfang der 1980er Jahre als Oberbürgermeisterkandidat in seinem Heimatort Ditzingen gescheitert war. Und der sich in seinen zehn Jahren als EU-Kommissar zuletzt höchstes Ansehen auf internationaler Ebene erarbeitet hat.

Die Ambivalenz ist Günther Oettinger offensichtlich schon in die Wiege gelegt worden. In einem, wie er sagt, klassischen FDP-Haushalt aufgewachsen, habe er sich als Jugendlicher als „eher links, so Typ Che Guevara“, empfunden. Später hat er dann der Rebellion entsagt und Wahlplakate für die FDP geklebt. Im Studium in Tübingen ist er aufs rechte Gleis eingebogen – als Mitglied der Jungen Union. Der Vater, der immer sein großes Vorbild gewesen sei, habe sich darüber gefreut. Immerhin hätte er als Student ja auch allerhand anderen Blödsinn machen können.

Entscheidung in der Badewanne

Ministerpräsident zu werden, der er von 2005 bis 2010 ja war, sei in seiner Karriereplanung nicht vorgesehen gewesen. „Minister habe ich mir zugetraut. Die Karriere in der zweiten Reihe lässt sich planen, der Rest ist Fortune“, sagt er. Das gilt wohl auch für den Absprung nach Europa. Die Entscheidung ist am frühen Morgen in einer Wiener Badewanne gefallen. Am Abend hatte ihn bei einer Konferenz in der österreichischen Hauptstadt der Ruf erreicht, am nächsten Morgen um 8.30 Uhr habe er zusagen müssen. Die Entscheidung aus dem Bauch und aus der Badewanne heraus hat er nie bereut. In Brüssel hat der Politiker Oettinger seine Vollendung gefunden. „Da geht es um die Sache, nicht um Parteipolitik“, sagt er.

Mit Jean-Claude Juncker, dem damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, habe er sich am Abend häufig auf ein Glas Wein zusammengesetzt. „Juncker ist überzeugter Europäer, den die Lehren der Geschichte tief geprägt haben“, sagt Oettinger und schiebt eine Charakteristik nach, die so in keiner Biografie auftaucht. Jean-Claude Juncker, sagt er, sei ein Mann von unglaublicher Stärke und ganz starken Schwächen. Eine davon sei gewesen, dass er Italien und dessen fahrlässigem Finanzgebaren nicht entschieden genug die Stirn geboten habe.

„Europa ist ein fantastisches Gebilde“

Auf Europa lässt Günther Oettinger auch ein halbes Jahr nach seinem Ausscheiden, zuletzt als EU-Haushaltskommissar, nichts kommen. „Europa ist ein fantastisches Gebilde. Es hat uns Frieden, Fortschritt und Bildung gebracht“, sagt er. Er sei der festen Überzeugung, dass nur im europäischen Team Zwerge Riesen bändigen könnten. In dem von Trump, Putin und den Chinesen ausgerufenen Wettbewerb der Kontinente sei Europa drauf und dran, den Anschluss zu verlieren. „Wir müssen aufpassen, dass wir in 20 Jahren hier nicht das Freilichtmuseum der Welt sind“, sagt Oettinger.

Mehr Forschung, mehr Innovation, mehr Vertrauen in die Technik – das seien die Hebel, die es umzulegen gelte. „Wir sind sorglos im Paradies unterwegs und laufen voll in die Krise rein“, sagt er. Paradebeispiel sei die einseitige Konzentration auf die Elektromobilität, bei der China die Schlagzahl vorgibt. Warum? „Weil die mit allen Mitteln ihren Smog aus Schanghai verbannen wollen“, sagt Oettinger. Von der Weltöffentlichkeit unbeachtet bauten die Chinesen allerdings gleichzeitig in ihrem riesigen Hinterland ein Kohle- und Atomkraftwerk nach dem anderen.

Lieber eine europäische Bürokratie als 28 nationale Bürokratien

Die Frage nach der grassierenden Euroskepsis prallt an ihm ab. „In Wernau begegnet man dem Landratsamt in Esslingen mit Skepsis, in Esslingen blickt man skeptisch nach Stuttgart und in Baden-Württemberg nach Berlin“, sagt er. Lieber sei ihm eine europäische Bürokratie als 28 verschiedene nationale Bürokratien.

Auch im aktuellen Politikgeschehen mischt Oettinger mit. Der Christdemokrat rät seinen Parteifreunden, sich beim Vorsitz bis Juni festzulegen. „Wir brauchen zügig einen neuen Vorsitzenden, der auch das Zeug zum Bundeskanzler hat“, sagt er. Besonders traue er den Job Friedrich Merz und Armin Laschet zu. „Für Jens Spahn kommt die Aufgabe ein paar Jahre zu früh“, sagt Oettinger. Wichtig sei jetzt eine schnelle Entscheidung. „Wenn wir im Juni einen Parteichef haben, dann wird Söder im Dezember erkennen: Der kann auch Kanzler“, so Oettinger in Richtung des bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Parteivorsitzenden, Markus Söder.