Der Tod des E-Mail-Erfinders Ray Tomlinson ruft bei Peter Glaser Erinnerungen an vier Freunde wach, die durch die elektronische Post wieder zusammenfanden.

Stuttgart - Als sich Anfang der 90er Jahre E-Mail verbreitete, lebte mein alter Freund Reinhard, mit dem ich bei den Pfadfindern gewesen war, auf einer Insel auf den Philippinen. Ich war in Hamburg gelandet. Und da waren noch zwei alte Freunde, Xao in Düsseldorf und Lugus in Las Vegas. Anfangs schickte Lugus manchmal Briefe auf Tonbandkassetten aus Amerika. Von Reinhard kam jedes Jahr zu Weihnachten ein Fax. Wir hatten gerade noch so eben Kontakt miteinander.

 

E-Mail hat uns die Möglichkeit wiedergegeben, unseren Alltag miteinander zu teilen. Über Kleinigkeiten zu berichten, derentwegen man keinen Papierbrief geschrieben, in einen Umschlag gesteckt, frankiert und im Regen zum Briefkasten getragen hätte. Wenn die Liebe eine Kunst der Nähe ist, dann ist Freundschaft eine Kunst der Entfernung.

1972 hatte der jetzt verstorbene Ray Tomlinson, ein stiller Ingenieur bei der Firma Bolt Beranek & Newman (BBN) in Cambridge, Massachusetts, die erste E-Mail verschickt. BBN hatte vom US-Verteidigungsministerium einen Entwicklungsauftrag für die sich entwickelnde Netztechnik erhalten, und Tomlinson schrieb ein kleines Programm, mit dem sich Nachrichten verschicken ließen. Als er nach einem Zeichen suchte, mit dem der Name des Teilnehmers von dem der Maschine getrennt werden sollte, entschied er sich für das selten benutzte @. Tomlinson hatte das Symbol des digitalen Zeitalters gefunden. Alle Menschen mussten noch einmal die Schulbank drücken und ein Zeichen nachlernen.

Bereits 1973 machte E-Mail drei Viertel des ganzen Netzverkehrs aus. Unser Kumpel-Korrespondentennetz, das sich nun dank E-Mail rasch herausbildete, erlaubte uns übergreifende völkerkundliche Beobachtungen. In einer Reihe von E-Mails erforschten wir, wie sich der Kaffeebecher ebenso über die Erde ausbreitete wie das Internet. Unsere zusammengelegten Berichte ergaben, dass sich Tassen mit Untertassen nur in Ländern mit ausgeprägter Heißgetränkekultur (Österreich: Kaffee; England und China: Tee) einigermaßen retten konnten. Weltweit hat der Becher gesiegt, der Mug.

Reinhard und ich wurden frühe Computerenthusiasten. Xao kaufte sich 1988 einen Rechner und ein Modem, nachdem er sich ein Bein gebrochen hatte und anfing, sich zu langweilen. E-Mail wurde zu einem Massenphänomen. Mitte der 90er Jahre wurde die E-Mail-Adresse auf der Visitenkarte modern. In den USA säumen Billboards mit Online-Adressen die Highways und kündeten am Straßenrand von der Existenz des Internets. Die US-Wäschefirma Joe Boxer druckte ihre Netzadresse auf die Unterhosenpackungen. Ein paar Tage lang wurden auf einem der gigantischen Bildschirme am New Yorker Times Square in Laufschrift die Texte der E-Mails angezeigt, die Leute an ihre Unterhosen schrieben.

Einmal fragte mich meine Schwester, die in Graz lebte, ob ich mich erinnern könne, wie wir als Kinder aus Kastanien und Zahnstochern Tiere zusammengesteckt hatten. Sie hatte es nach Jahren wieder einmal probiert, aber die Zahnstocher gingen nicht mehr in die Kastanien. Ich mailte meine Freunde an: Hatten sich die Kastanien nach Tschernobyl verhärtet? Waren die Zahnstocher früher weniger weich gewesen?

Xao erinnerte sich, dass man statt Zahnstochern Streichhölzer verwendet hatte, vor allem: dass die Löcher in den Kastanien vorgebohrt werden mussten. Von Reinhard aus Hongkong kam der Hinweis, dass man statt Kastanien auch Tannenzapfen verwendet hatte. Was für ein schnelles Vergnügen – mit E-Mail. Danke, Ray Tomlinson!