Ausgerechnet Heilbronn könnte Stuttgart als Vorbild dienen, wenn es um den Rückbau von Straßen geht. Unter dem Deckmantel der Bundesgartenschau gestaltet die Stadt ihr Gesicht derzeit radikal um.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Heilbronn - Auf Nichts ist mehr Verlass, nicht einmal darauf, dass Heilbronn hässlich ist. Da hatte man sich auf dem Weg zum Gelände der Bundesgartenschau 2019 alle Vorurteile aus der Schublade geholt und sich daran erinnert, dass die Stadt im Unterland ein Beton gewordenes Mahnmal für die autogerechte Stadt ist – und dann das: viel Grün, dafür weniger Straße, mehr Wasser und vor allem jede Menge Baustellen.

 

Schuld an den vielen Baugruben ist unter anderem Oliver Toellner, Leiter Planung und Ausstellungskonzeption der Buga. Toellner führt drei Stunden lang über die Fläche der Gartenschau. Seine Mission: „Wir wollen keine Blümchenschau hinter Zäunen, sondern mit Sehgewohnheiten brechen und die Frage stellen, wie nachhaltig eine Buga sein kann. Wir fragen uns: Was bleibt, wenn die Schau vorüber ist?“

Am Ende dieses Besuchs bleibt erst einmal Muskelkater, weil Toellner ein Ausstellungsmacher ist, dessen Energielevel einem mittleren Heizkraftwerk entspricht: Er rast über das Gelände! Außerdem hat man die Stadt von gestern, von heute und von morgen unter dem Brennglas präsentiert bekommen – inklusive der überraschenden Erkenntnis, dass ausgerechnet Heilbronn in Fragen des Städtebaus als Vorbild für Stuttgart dienen könnte.

Der Neckar ist zum Greifen nah

Beim Gang über das Gelände wird die Industriegeschichte der Stadt Heilbronn unter anderem an der ältesten handbetriebenen Schleuse Württembergs sichtbar. Einst war der Neckar prägend für den Handel, dann wurde diese für die Stadthistorie wichtige Epoche hinter einer Betonplatte versteckt. Toellner steht auf einer für die Buga gebauten Holzplattform, von der aus man den Neckar berühren kann. „Diese Stelle hier ist von der Didaktik her unbezahlbar“, erklärt er. „Genau gegenüber fällt der Blick auf Industriegebiete, auf die Bahnlinie – keine Chance für den Menschen, an den Fluss zu kommen. So hat man den Strom in den vergangenen Jahrzehnten behandelt.“

Die Zukunft von Heilbronn zeigt sich im Wohnviertel Im Neckarbogen, wo unter anderem das höchste Holzhaus Deutschlands entsteht, die Planer aber etwas noch viel Größeres geschafft haben: Investoren zu domestizieren. Man hat es verstanden, Baugemeinschaften, Architekten und Bauträger zu einem homogenen Städtebauprojekt zusammenzuführen. „Am Ende wird es im Neckarbogen über 50 Prozent geförderte Mietwohnungen geben, um eine gute soziale Mischung im Quartier zu erreichen“, sagt Toellner. Studentisches Wohnen, betreutes Wohnen und Alterswohnen sollen nebeneinander funktionieren.

Ein Architekt konnte maximal zwei Häuser bauen, die aber nicht nebeneinander liegen durften – damit das neue Wohnviertel nicht aussieht wie das Europaviertel in Stuttgart, das heute als Beispiel dafür funktioniert, wie das Rosensteinviertel auf gar keinen Fall einmal ausschauen darf. Das Rosensteinviertel ist das größte Städtebauvorhaben der Landeshauptstadt: Schlossgarten und Rosensteinpark sollen erweitert werden, dazu sollen 7500 (bezahlbare!) Wohnungen entstehen.

Ein Vorbild für das Stuttgarter Rosensteinviertel

In Stuttgart hat man das Gefühl, dass es bei vielen noch nicht angekommen ist, was das Rosensteinviertel und die Internationale Bauausstellung IBA 2027 für eine Chance darstellen. In Heilbronn sieht man hingegen, was alles möglich ist, wenn man Bürger für Stadtentwicklung begeistert. „Natürlich gab es auch bei uns großen Widerstand und Verlustängste, wenn über die Zukunft des Verkehrs diskutiert wurde.“

Toellner und sein Team haben eine zentrale Ausstellung im Herzen der Stadt, an der Inselspitze, installiert. „Stadtentwicklung braucht einen Masterplan“, sagt der 49-Jährige, und der wird unter dem Titel „Aufbruch Heilbronn“ in den ehemaligen Räumen einer Galerie erklärt. Selbstverständlich mit vielen multimedialen Elementen und dezenten Hinweisen, dass nicht Straßen im Mittelpunkt einer Stadt stehen sollten, sondern Menschen. Nicht auszudenken, wenn man die Stuttgarter Bürger an einer zentralen Stelle wie dem Schlossplatz über ihre Stadt der Zukunft informieren würde. Stattdessen gibt es eine Ausstellung im Bahnhofsturm – „eine Rapunzellösung“, wie Toellner meint.

In Heilbronn geschieht Stadtentwicklung derzeit durch die Blume. Neunmalkluge Buga-Kenner wenden nun ein, dass Gartenschauen schon immer Städtebauprojekte waren, siehe etwa Schwäbisch Gmünd, wo eine Landesgartenschau für die Neugestaltung der Stadt genutzt, eine Straße mit 50 000 Fahrzeugen verlegt und die Rems wieder zugänglich gemacht wurde.

Die Transformation von Heilbronn findet aber in einer anderen Liga statt: Im Neckarbogen sollen künftig rund 3500 Menschen leben und etwa 1000 Arbeitsplätze entstehen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesgartenschauen, die 1951 in Hannover begann, wird ein Wohnquartier bereits während der Leistungsschau der Gärtner bewohnt sein. Die ersten 700 Bewohner des neuen Viertels werden sich 2019 mit geschätzt zwei Millionen Besuchern innerhalb von sechs Monaten auseinandersetzen müssen.

Der Hunger nach Neuem ist groß

Die Veranstalter haben für die ersten „Neckarbogis“ einen Leitfaden produziert, in dem der künftige Musterhausmensch zum Beispiel erfährt, dass er mit seinem Hund auf dem Buga-Gelände erst wieder Gassi gehen kann, wenn die Gartenschau vorüber ist. „145 Millionen Euro sind veranschlagt, um eine devastierte Bahnbrache zu revitalisieren, innerstädtische Siedlungsfläche zu erweitern und damit das Layout von Wohn- und Gewerbeflächen am Neckar neu zu definieren“, heißt es im Begleitkatalog zur Stadtausstellung Heilbronn.

Sicherlich ist der Leidensdruck in der Stadt, die sich seit Jahrzehnten mit Pforzheim um den Titel hässlichsten Gemeinde in Baden-Württemberg streitet (Zwischenstand: ein leistungsgerechtes Unentschieden) hoch. Wegen der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg gibt es in Heilbronn kaum historische Bausubstanz. Der Hunger nach Neuem ist dementsprechend groß.

Aber auch Stuttgart hat bekanntermaßen Ecken, an denen man nicht gerade einen Schönheitswettbewerb gewinnen würde, siehe Stadtautobahn Konrad-Adenauer-Straße zum Beispiel. Interessanterweise gab es im vergangenen Jahr eine Kunstaktion auf der Heilbronner Kalistraße, bei der Bürger unter Regie des österreichischen Choreografen Willi Dorner die Stadtautobahn mit Stühlen besetzt haben. Anfang Juli nun verwandelt der Fernsehmoderator und promovierte Planer Wieland Backes mit seinem Aufbruch Stuttgart die Konrad-Adenauer-Straße mit 1000 Stühlen in eine riesige Hocketse.

Der Traum von der Stadt am Fluss

Heute ist die Kalistraße in Heilbronn Geschichte, an sie erinnert nur noch ein winzig kleiner Randabschnitt samt dazu passender Peitschenleuchte. Herrliches Planerdeutsch: die einstigen „Straßenbegleitbäume“ stehen nun ohne Straße da. So konnte der autobefreite Neckar in die Stadt zurückgeholt werden.

In Stuttgart wird seit gefühlten Ewigkeiten von der Stadt am Fluss gesprochen, ohne dass irgendetwas Konkretes passiert. In Heilbronn macht man dagegen einfach.

Dabei wird die Buga das Antlitz der siebtgrößten Stadt in Baden-Württemberg nicht alleine verändern. Auch Dieter Schwarz, der mit Lidl und Kaufland an der deutschen „Geiz ist geil“-Mentalität viel Geld verdient hat, lässt Hand anlegen. Den von der Dieter-Schwarz-Stiftung finanzierten Innenstadt-Campus der Dualen Hochschule Baden-Württemberg sollen bis 2020 rund 10 000 Studierende bevölkern. Die Experimenta lässt Schwarz gerade zum größten Science-Center Deutschlands umgestalten. Neueröffnungstermin: 2019.

Anfangs konkurrierten Bundesgartenschau und Experimenta darum, wer wichtiger bei der Transformation der Stadt im Unterland sein darf. Heute arbeiten die Macher beider Projekte längst Hand in Hand. Von der Dachterrasse der Experimenta wird man 2019 den besten Blick über das Buga-Gelände haben.

Auch aus dieser Vogelperspektive dürfte es schwerfallen, ein Haar in der Buga-Suppe zu finden. Es ist fast schon unheimlich, wie viel Heilbronn bisher richtig macht. Selbst als die Gartenschauplaner bekannt gegeben haben, dass sie 6000 Bäume pflanzen werden, um sie nach der Veranstaltung zu schreddern, gab es keinen Aufschrei der Wutbürger. Vielleicht, weil Oliver Toellner in einer seltenen Kombination aus Fachwissen und der Fähigkeit, dieses druckreif zu vermitteln, die Geschichten seiner Buga erzählt. Manchmal muss er sich selbst bremsen: „Bei aller Stadtplanung dürfen wir die Gartenschau natürlich nicht verraten“, sagt der Landschaftsarchitekt. „Das wird schon alles sehr floral hier.“

Toellner gehört zur Urbesetzung der Buga. Bevor er diese Mission begonnen hat, hatte er in Hamburg an der Umgestaltung des Jungfernstiegs mitgewirkt. In Heilbronn bei der Buga-Gesellschaft waren sie anfangs zu zweit, heute geht es im Hauptquartier der blumigen Stadtrevolutionäre zu wie in einem Bienenstock: Alles brummt. Toellner zeigt am Laptop Visualisierungen. Zwei Aufkleber zieren sein Macbook: ein Buga-Bäbber und ein Sticker mit dem Slogan „Stuttgart liebt dich“. Toellner ist gebürtiger Stuttgarter. Nicht auszudenken, wenn er seine Energie nach der Buga in seiner Geburtsstadt einbringen dürfte.