Der Hemminger Obstkundler Matthias Braun konnte nicht glauben, wie viele Früchte ein Birnbaum in diesem Jahr getragen hat. Und nun?

Beim Anblick des Birnbaums auf der Wiese zwischen dem Schlosspark und der Hälde in Hemmingen hat es selbst dem Experten, der ständig Birnbäume sieht, die Sprache verschlagen. Dass der Baum übervoll mit Karcherbirnen sein wird, hat der Pomologe Matthias Braun zwar erwartet. Dass er mehr als 1,2 Tonnen trägt, habe er in der Form aber noch nie erlebt – auch an keinem anderen Birnbaum, berichtet der 53-Jährige, der sich für die Erhaltung alter Obstsorten einsetzt. „Der Baum hatte bald mehr Birnen als Blätter. Das ist einfach unglaublich und sensationell.“

 

Früher als geplant musste Matthias Braun zudem ernten. „Auf einen Schlag ist so gut wie alles heruntergefallen, 14 Tage vor der Zeit“, sagt er. 240 Kilo hat er gesammelt. „Wir machen daraus sortenreinen Birnensaft und ein sortenreines Edeldestillat.“ Auch der preisgekrönte Ditzinger Urs Renninger, der feinen Cidre herstellt, Poiré – Cidre aus Birnen – und Cuvée aus verschiedenen Obstsorten, hat sich an den Massen bedient. Er hat rund 760 Kilo geerntet. Gut 200 Kilo seien „verfaultes und aufgeplatztes Zeug“, so Braun, und etwas Obst hänge noch am Baum.

„Wie in einer anderen Welt“

Der Obstkundler sagt, dieses Jahr hätten die Bäume allgemein viel Obst. Anders als Apfelbäume, die alle zwei Jahre Früchte tragen, seien Birnbäume „eher kontinuierlich“. Besagte Karcherbirne aber habe voriges Jahr keine fünf Birnen am Baum gehabt. „Sie hat ausgesetzt“, sagt Matthias Braun, der das mit dem Wetter erklärt, dem Frost. Offenbar habe die Karcherbirne ihre ganze Energie gesammelt und nun entfaltet. Für sein Alter von rund 130 Jahren sei der Baum recht stabil. „Ich habe mich gewundert, dass nichts durchgebrochen ist bei dem Gewicht“, sagt Matthias Braun. Bis Sonnenuntergang habe er kürzlich geerntet. Es sei ein Vergnügen, als kleiner Mensch unter einem so tollen, großen Baum zu sitzen. „Da fühlt man sich wie in einer anderen Welt“, sagt der 53-Jährige mit Blick auf die Dämmerung.

Die Birnen reifen jetzt in der Hütte auf dem Hauwiesle, ehe sie verarbeitet werden. Bis sie weich und braun genug sind, können rund 14 Tage vergehen, sagt Matthias Braun. Dieses Jahr gebe es insgesamt viele sortenreine Säfte. Da komme der Fingerabdruck der Sorte raus und der Geschmack besser rüber. Die Karcherbirne ist laut Braun äußert vielseitig und hat früher zum Überleben beigetragen: Sie eigne sich für Birnenschaumwein, den reinsortigen Poiré Renningers, für Most, Edeldestillate und „vorzügliche“ Birnensäfte. 30 bis 40 Kilo wird Christel Raasch, die Vize-Vorsitzende des ortsgeschichtlichen Vereins Hemmingen, im Etterhof dörren und in Hutzelbrot verarbeiten.

Auch mit dem Garten geht es voran

Dank des Projekts Sortenerhalt sind Brauns Erzeugnisse bekannt und gefragt. Das Projekt des Pomologen und des Landschaftsgärtners Eric Raasch startete 2018, als das Duo am Eulenberg vier Luikenapfelbäume pflanzte. Braun und Raasch wollen nicht nur möglichst regional produzieren, sondern auch unbekannte Sorten bestimmen und neu entdecken – wie jüngst eine seltene bittersüße Apfel- und eine Birnensorte aus der Normandie –, geeignete Reiser zur Veredelung auf einer Hochstammunterlage gewinnen und Sorten nachpflanzen. Die Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau (LVWO) in Weinsberg ist mittlerweile auf das Sortenerhaltungsprojekt aufmerksam geworden. Zudem machen Braun und Raasch Projekte mit beispielsweise Kitakindern. Bei Interesse sei Ähnliches auch mit Schulklassen denkbar.

Eine echte Rarität

Voran geht es auch im Luikensorten-Erhaltungsgarten zwischen dem Wengertweg und der Bahnlinie am Ortsausgang Richtung Schwieberdingen. Dort wächst ein rund 100 Jahre alter Baum, der in der Region eine Rarität ist: eine sortenreine Ur-Luike. Matthias Braun hatte sich dafür eingesetzt, dass um den Apfelbaum ein ganzer Garten entsteht. Gepflanzt wurden auf der Wiese der Gemeinde diverse hochstämmige Luikensorten. Gegenüber kommen bald 15 bis 20 Bäume hin, Halbstämme aber, die schon nach drei Jahren erstmals Früchte tragen statt erst nach acht bis zehn. Nächstes Jahr will der Pomologe noch Bänke und Schilder aufstellen. Vor mehr als 150 Jahren sei die Luike in Württemberg weit verbreitet gewesen, quasi „ein Superstar der damaligen Zeit“. Rund ein Viertel aller Apfelsorten waren Luiken, die als wesentlicher Bestandteil der schwäbischen Mostkulturgeschichte gelten.

Braun schätzt, dass es in Hemmingen und Heimerdingen mehr als 100 alte Apfel- und Birnensorten gibt. Noch seien aber nicht alle bestimmt. Insgesamt gebe es bereits gut 1000 namentlich bestimmte alte Sorten.