Die Hessen haben zwar über einen neuen Landtag abgestimmt, aber in Wahrheit haben die Bürger ihr Urteil über die große Koalition in Berlin abgegeben. Das sollten wir alle dürfen, meint Rainer Pörtner.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Wie im echten Leben gibt es auch in der Politik Ereignisse, die sind wie der erste Stein einer hochkant aufgestellten Dominoreihe: Sie lösen eine Kettenreaktion aus, an deren Ende kein einziger Stein mehr in seiner anfänglichen Position ist. Die nordrhein-westfälische Landtagswahl 2005 war ein solcher Dominostein. Die SPD verlor an Rhein und Ruhr. Noch am Abend des Wahltages kündigte der sozialdemokratische Bundeskanzler in Berlin, Gerhard Schröder, Neuwahlen an. Das Ergebnis ist bekannt: Die SPD unterlag der CDU auch im Bund, seitdem sitzt Angela Merkel im Kanzleramt.

 

Wird die hessische Landtagswahl zum Dominostein, der erneut die Verhältnisse in der Hauptstadt zum Umstürzen bringt? Erlebt ausgerechnet Merkel, die seit dreizehn Jahren die deutschen Regierungsgeschäfte leitet, eine Art Déjà-vu – allerdings mit der Pointe, dass am Ende, wenn alle Dominosteine umgekippt sind, sie selbst die größte Verliererin ist?

Hessische Abstimmung über die Groko in Berlin

Beide Partner der schwarz-roten Koalition im Bund sind an diesem Sonntag in Hessen abgestraft worden. Zusammen verlieren Christ- und Sozialdemokraten um die zwanzig Prozentpunkte gegenüber der Hessenwahl vor fünf Jahren. Was eigentlich die Entscheidung über ein Landesparlament, über einen nicht unbeliebten Ministerpräsidenten und über eine von den Hessen durchaus wertgeschätzte schwarz-grüne Koalition in Wiesbaden sein sollte, ist vom Wähler zu einer Abrechnung mit Angela Merkel, Horst Seehofer und Andrea Nahles umgewidmet worden. An der Klarheit der Botschaft gibt es keinen Zweifel: In Berlin soll es künftig anders zugehen.

Merkel, Seehofer und Nahles – alle drei sind angezählt

Ein Kanzler Schröder hätte jetzt vermutlich gerufen: „Va banque! Ich setze alles aufs Spiel: Geben wir dem Wähler das Wort!“ Aber Angela Merkel ist nicht Gerhard Schröder, sie ist keine Spielerin. Wenig deutet bisher darauf hin, dass sie von sich aus Neuwahlen herbeiführt. Außerdem sind da ja noch Seehofer und Nahles. Wie Merkel waren sie bereits vor der Landtagswahl in Hessen politisch angezählt.

Die Chefs von CDU, CSU und SPD verbindet ein Kalkül: Wenn es zum schnellen Ende ihrer Koalition in Berlin käme, wären die Folgen für ihre Parteien nicht absehbar. Und die drei Parteichefs selbst wären womöglich unter den ersten Opfern. Das gilt allemal für Seehofer, der als Hauptverantwortlicher der Groko-Wirrnisse endlich abtreten muss; er hätte es schon nach der schweren CSU-Schlappe bei der Bayernwahl tun sollen. Das gilt aber auch für Merkel und Nahles. Beide könnten versuchen, nach dem Debakel in Hessen Zeit zu gewinnen und die Groko mit der Beteuerung fortzusetzen, nun aber werde – ganz bestimmt! – alles besser laufen.

Abwarten und Taktieren helfen nicht mehr weiter

Das Hoffen auf Besserung wird vergeblich sein. Diese große Koalition ist innerlich bereits zu zerrüttet, um noch einmal zu einem gedeihlichen Miteinander zu finden. Die Dauerfehden von Merkel und Seehofer waren nicht nur durch persönliche Unverträglichkeit begründet, sondern auch durch unvereinbare politische Positionen – vor allem in der Flüchtlingsfrage. Der Glaube, dass Merkel die Überzeugungskraft und den Ideenreichtum für einen Neustart aufbringt, verglüht.

Spätestens im Sommer des kommenden Jahres stellt sich für die SPD auf jeden Fall die Frage, ob sie in der Groko bleiben will. Dann steht die selbst auferlegte Überprüfung des Koalitionsvertrags zur Halbzeit der Legislaturperiode an. Aus heutiger Sicht ist nicht vorstellbar, dass noch einmal eine Mehrheit der SPD-Basis für das Bündnis mit der Union stimmt.

Abwarten, Herumdrucksen und Taktieren helfen jedoch nicht mehr weiter. Die SPD sollte ihren Ausstieg aus der Regierung verkünden. Jetzt. Und die CDU sollte Merkel überzeugen, dass sie Neuwahlen ermöglicht – mit einer neuen Führungsfigur an der Spitze der Partei.

Sehen Sie im Video: Die Hessen-Wahl sorgt für lange Gesichter bei CDU und SPD.