In immer mehr Wohnstuben brennt schon vor Weihnachten der Baum. Ist das ein Sakrileg? Oder heute ganz normal – wie Sex vor der Ehe? Da ist sich unsere Redaktion nicht einig.

Brauchen wir Plätzchen und Tannenduft, um in Weihnachtsstimmung zu kommen? Nein, sagt unser Autor Eberhard Wein. All diese Dinge verdürben nur die Vorfreude. Sein Kollege Sebastian Jutisz votiert hingegen für Gelassenheit und sieht dabei sogar einen Nobelpreisträger auf seiner Seite.

 

Pro – Freiheit statt krampfhafter Rituale

„Ein gewaltiger Tannenbaum, der fast bis zur Decke reichte, geschmückt mit Silberflitter und weißen Lilien – und an der Spitze ein schimmernder Engel.“ So beschreibt Thomas Mann in dem berühmen Gesellschaftsroman „Buddenbrooks“ die Krönung des Dekors, in dem eine Lübecker Patrizierfamilie Weihnachten feiert. Und so dürfte noch immer ein großer Teil der Familien in Deutschland das Fest der Liebe begehen: mit Kerzenflammen am Baum, Geschenken auf dem Tisch und üppigem Festmahl. Doch erhält dieses Bild immer mehr Risse.

Der Weihnachtsbaum, der einst von Martin Luther zum Weihnachtssymbol der Protestanten erklärt wurde, steht wie kein anderes Ritual für Bürgerlichkeit und ein heiles Familienleben. Allerdings scheint es, als würde auch dieses Ritual heutzutage mehr und mehr aufgeweicht werden. So galt es früher als eine Selbstverständlichkeit, dass der Baum erst an Heiligabend seine ganze Pracht im Kerzenschein entfalten darf. Heute jedoch scheint selbst der Baum nicht mehr heilig zu sein. Immer mehr Bürger können der Versuchung nicht widerstehen, sich schon Tage, ja selbst Wochen vor dem 24. Dezember am Kerzenschein einer frischen Nordmanntanne zu erfreuen.

Das kann man als Sittenverfall beklagen. Oder aber man nimmt es mit Gelassenheit. Das Besondere an den „Buddenbrooks“ ist nicht nur, dass der Nobelpreisträger den Zerfall einer Familie zelebriert, sondern auch jenen des protestantischen Christentums. So suchen die Frauen im Roman angesichts des sich abzeichnenden Verfalls Trost in religiösen Ritualen, die diesem allerdings nicht wirksam entgegenwirken können. Was sagt uns das? Hängt der Haussegen schief, helfen auch feste Rituale nichts, mögen sie auch noch so erhaben daherkommen. Das krampfhafte Festhalten an ihnen erzeugt ganz im Gegenteil nur übersteigerte Erwartungen, die zwangsläufig zu Enttäuschungen führen. So wie heutzutage Paare nicht mehr bis zur Hochzeit warten müssen, um das Ehebett zu teilen, so darf auch der Baum ruhig schon vor Heiligabend enthüllt werden.

Kontra – Warten ist wichtig

Früher freuten wir uns über weiße Weihnachten, heute sind wir froh, wenn es nicht kahle Weihnachten werden. Zwei Drittel aller Weihnachtsbäume, meldet das Statistische Bundesamt dieser Tage, werden schon im November geschlagen und ausgeliefert. Wir wollen das so. Denn in immer mehr Familien steht das Jahresendgewächs spätestens zum ersten Advent schwer behangen im überheizten Wohnzimmer. Kein Wunder, dass wir die Geschenke am Ende unter einem Berg von Nadeln suchen müssen, als ob Ostern wäre. Spätestens am zweiten Weihnachtsfeiertag fliegt der Baum dann endlich auf die Straße. Wir haben uns an dem Ding schlicht satt gesehen.

Vorfreude ist die schönste Freude. Man soll die Feste feiern, wie sie fallen. Alles zu seiner Zeit. Solche Sinnsprüche werden im Glühwein ertränkt, sobald das Thermometer unter 15 Grad sinkt. Die ersten Lebkuchen stehen im Oktober in den Supermarktregalen, Whams „Last Christmas“ dudelt von November an im Radio, und selbst Omas Selbstgebackenes wird spätestens Anfang Dezember aufgefuttert. Ursprünglich war der Advent eine Fastenzeit!

Es ist uns der Sinn fürs richtige Timing abhanden gekommen. Dabei ist die Vermittlung von Geduld eine zentrale Erziehungsaufgabe. Wer als Kind zu warten gelernt hat, so hat ein Test ergeben, ist besser in der Schule, entwickelt mehr Empathie und Frustresistenz im Leben und wird ein zufriedener Erwachsener. Aber heute will keiner mehr aufs Christkind warten.

Wenn Bayerns Regierungschef Markus Söder (CSU) gegen eine Hamburger Kita poltert, weil sie in der Adventszeit keinen Weihnachtsbaum aufstellt, fühlt er sich als Verteidiger des christlichen Abendlands. Dabei beweist er damit nur seine eigene Kulturvergessenheit. Der Christbaum gehört nicht zum Advent, der gehört zu Weihnachten. Deshalb wird er frühestens am 23. Dezember aufgestellt – und keinen Tag früher!