Einst war der heutige Ministerpräsident Baden-Württembergs selbst vom Radikalenerlass betroffen. Doch zu dessen Aufarbeitung wollte sich Winfried Kretschmann lange nicht äußern. Nun findet er in einem Brief deutliche Worte.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Das Thema plagte Winfried Kretschmann schon seit Monaten. Immer wieder wurde der Ministerpräsident von Journalisten gefragt, was für ihn denn aus der Heidelberger Studie zum Radikalenerlass folge. Regelmäßig musste er passen: Noch habe er das 680-Seiten-Werk des Historikers Edgar Wolfrum nicht lesen können, es gebe gerade größere Probleme zu bewältigen. Die einst von Berufsverboten Betroffenen müssten sich eben noch gedulden.

 

Doch jene Männer und Frauen, deren Berufs- und Lebenswege durch den Radikalenerlass vor 50 Jahren schwer beeinträchtigt wurden, verloren zusehends die Geduld. Immer drängender wurden ihre Rufe nach Entschuldigung und Entschädigung. Mit offenen Briefen und Kundgebungen pochten sie auf Rehabilitation, unterstützt etwa von der Landtags-SPD oder den Gewerkschaften. Die Zeit dränge: Kretschmann dürfe nicht auf eine „biologische Lösung“ warten, mahnten die um die 70- bis 80-Jährigen.

Kritische Töne zur früheren Praxis

Nun endlich äußert sich der Regierungschef. An diesem Donnerstag lässt er einen offenen Brief publizieren, in dem er sich auf fünf Seiten gründlich mit dem Radikalenerlass auseinandersetzt. Eine förmliche Entschuldigung enthält er zwar nicht, von Entschädigung ist erst gar nicht die Rede. Doch in der zentralen Passage findet Kretschmann höchst kritische Töne zur früheren Praxis.

„Ganze Generation unter Verdacht“

Bei der Umsetzung des Radikalenerlasses sei einst das „Augenmaß verloren gegangen“. „Eine ganze Generation wurde unter Verdacht gestellt, das war falsch.“ Einzelne seien wohl zu Recht sanktioniert worden, manche aber eben auch nicht. Sie hätten „zu Unrecht durch Gesinnungsanhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit Leid erlebt“. Dann folgt der entscheidende Satz: „Das bedauere ich als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg sehr.“

In seiner Bewertung stützt sich Kretschmann stark auf die Ergebnisse des Heidelberger Forschungsprojekts, das das Land finanziell gefördert hatte. Inzwischen fand er Zeit zum Lesen – und empfiehlt die Lektüre „ausdrücklich“. Für ihn, der wegen des Erlasses einst fast nicht Lehrer werden konnte, sei das Werk auch persönlich sehr aufschlussreich. Ihm werde darin „die größte Verirrung meines eigenen Lebens gespiegelt, nämlich der Linksradikalismus meiner Studienzeit“. Noch heute erschrecke ihn, wie man „einen solchen ,Tunnelblick‘ entwickeln und sich derart in eine verblendete Weltsicht einbohren kann“. Da sei es nur konsequent, wenn der Staat reagiere.

„Mit Kanonen auf Spatzen geschossen“

Die Idee hinter dem Radikalenerlass findet Kretschmann grundsätzlich richtig: Die Demokratie müsse sich ihrer Feinde erwehren können, damals wie heute. Doch bei der Umsetzung, im Südwesten besonders rigide, sei vieles schiefgelaufen. Menschen könnten sich ändern und dazulernen: Das sei zu wenig bedacht worden. Er selbst habe damals dank Fürsprechern die Chance erhalten, andere nicht. Wie „unverhältnismäßig“ der Erlass war, zeigten für ihn auch die Zahlen: Bei 700 000 Anfragen an den Verfassungsschutz habe es gerade in 0,3 Prozent Erkenntnisse gegeben. 200 Bewerber seien abgelehnt, 60 Beschäftigte entlassen worden – da sei tatsächlich „mit Kanonen auf Spatzen geschossen“ worden, wie der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) einst meinte. Auffällig sei zudem, dass es gerade in drei Prozent der Fälle um Rechtsextremisten ging. Der Staat, so Kretschmanns Fazit, brauche „einen breiten Blick auf den Extremismus“ – linken, rechten und religiös motivierten.

„Kämpfe und Kränkungen“

Für die Betroffenen findet Kretschmann verständnisvolle Worte. Jene, die sich rechtlich wehrten, hätten „belastende und zermürbende Kämpfe“ geführt. Die anderen trügen seither „die beruflichen und biografischen Folgen des mangelnden Augenmaßes und dazu damit einhergehende Kränkungen“. All dies wird der Ministerpräsident einer Delegation noch persönlich darlegen: Für Februar ist ein Gespräch im Staatsministerium geplant. Um ein solches hatte die Betroffenen-Initiative jüngst erneut gebeten – und auf ein bedingt vergleichbares Vorbild verwiesen: Auch Geschädigte des Polizeieinsatzes am Schwarzen Donnerstag im Schlossgarten habe Kretschmann einst in der Villa Reitzenstein empfangen. Das wurde damals als wichtige Geste empfunden – und könnte auch jetzt eine werden.