Moritz Olonetzky musste 1905 aus der Ukraine fliehen, weil er Jude war. In Stuttgart fassten er und seine Familie Fuß – bis die Nazis an die Macht kamen und ihr Leben zerstörten. Aus unserer Serie „Stuttgarter Stolpersteine – Die Menschen hinter den Namen“.

Volontäre: Julika Wolf (jwo)

In der Ukraine fing alles an. Dort wurde Moritz Olonetzky 1881 geboren. Ein Land, in dem heute wieder Menschen in Angst um Schrecken leben, in dem viele um ihr Leben und das ihrer Angehörigen bangen, aus dem heute wieder Menschen fliehen. Fliehen musste auch Moritz Olonetzky, nur mehr als 100 Jahre früher. Die Ukraine, die damals noch Teil der Sowjetunion war, wurde für ihn zu gefährlich, um dort zu bleiben. Und doch war damals alles anders als heute.

 

Moritz Onoletzky ist als Jude im damaligen Russland Hass und Hetze ausgesetzt. Nach 1905 zwingen Pogrome viele Juden dazu, ins Ausland zu fliehen. Auch Moritz Olonetzky und seine Frau, Malka Olonetzky-Ziegelmann, packen ihre Sachen und verlassen das Land. 1909 lassen sie sich in Stuttgart nieder, in der Champignystraße 3. Ihre älteste Tochter Paula, 1906 geboren, haben sie dabei, im Jahr 1910 kommt der Sohn Efrem zur Welt.

Schwere Schicksalsschläge ereilen die Familie immer wieder

Nacheinander werden die Kinder Anna, Avraham und Benjamin geboren. Zwei weitere Kinder sterben im frühen Kindesalter. Die Schicksalsschläge setzen sich fort. 1921 stirbt Olonetzkys Frau Malka an einer Lungenentzündung. Ihr Mann und die fünf Kinder kämpfen sich durch. Olonetzky ist Generalvertreter einer Zigaretten-Großhandlung. Später heiratet er erneut, die Ehe wird jedoch schnell wieder geschieden.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten werden jüdische Unternehmen arisiert, die jüdischen Menschen enteignet, ihr Vermögen einkassiert. So geht es auch dem Inhaber des Unternehmens, bei dem Moritz Olonetzky beschäftigt ist. Moritz wird entlassen und muss bald darauf Zwangsarbeit leisten. Immer demütigender wird sein Leben. Er muss in ein „Judenhaus“ umziehen. Wie alle Juden wird er im Register mit dem Zusatznamen „Israel“ aufgelistet. Ab 1941 ist er gezwungen, den Judenstern zu tragen.

Die Stolpersteine in der Fritz-Elsas-Straße 34 /Nadine Olonetzky

Im April 1942 folgt die Aufforderung, sich im Sammellager auf dem Killesberg einzufinden, sein Hausrat und das restliche Vermögen werden eingezogen. Mit über 600 anderen Juden wird er am 26. April gezwungen, zum Nordbahnhof zu marschieren und dort einen Zug zu besteigen. Drei Tage dauert die Reise nach Izbica im östlichen Polen. Von dort aus werden die Menschen in die Vernichtungslager Belzec und Sobibor gebracht. Wo genau Moritz Olonetzky umkommt, ist unklar. Als die Nazis ihn ermorden, ist er 61 Jahre alt.

Zurück bleiben seine Kinder. Auch ihnen wird das Leben zur Hölle gemacht. Paula, die älteste Tochter, zieht 1934 mit ihrem Mann nach Tel Aviv, um sich zu retten. Auch die Söhne Efrem und Avraham wandern nach Palästina aus.

All das steht in einer Broschüre der Stolperstein-Initiativen in Stuttgart. Nadine Olonetzky hat die Informationen zusammengetragen. Sie ist Buchautorin – und die Enkeltochter von Moritz Olonetzky. Ohne sie gäbe es die Stolpersteine nicht, die in der Fritz-Elsas-Straße 46/48 an ihre Vorfahren erinnert. Es war die letzte freiwillig bewohnte Adresse von Moritz Olonetzky und seiner Familie. Damals hieß sie noch Gartenstraße 17.

In Zusammenhang mit den Stolpersteinen hat Nadine Olonetzky sich mit der Geschichte ihrer Familie auseinandergesetzt, in Archiven gegraben, Tausende Dokumente durchforstet und die Broschüre verfasst, schließlich auch ein Buch. Darin versucht sie herauszufinden, wie es sich damals zugetragen hat. Denn lange wusste sie nichts von der Geschichte ihrer Familie. Nur einmal erzählte ihr Vater ihr vom Schicksal der Olonetzkys - auf einer Parkbank im Botanischen Garten in Zürich.

„Der einzige Gegenstand, der die Flucht, die Verfolgung überlebt hat und den ich habe, ist eine kleine Fotografie“, sagt Nadine Olonetzky. Es ist dieses Bild – von ihrem Vater. Foto: Privatbesitz/Tom Kawara

Ihr Vater ist Benjamin Olonetzky, das jüngste der fünf Kinder. Auch seine Geschichte ist eindrücklich. 1917 wird er geboren, schon wenige Jahre später verliert er die Mutter. Die Firma, in der er lernt und arbeitet, wird arisiert. In Bielefeld und in Stuttgart muss er Zwangsarbeit leisten.

Im Februar 1943 erfährt er, dass er „zum Abtransport bereitstehen“ muss. Es ist ein Deportationsbefehl; der Transport würde mutmaßlich in ein Vernichtungslager führen. Benjamin flieht mit seiner Frau Hanna. Zuerst nach Wuppertal, wo sie für drei Monate versteckt werden, dann ins Elsass. Von dort kundschaftet er einen Weg in die Schweiz aus und wagt mit seiner Frau die Flucht. In der Schweiz landen sie in einem Flüchtlingslager. Dort überleben sie Krieg und Verfolgung.

Benjamin Olonetzky will Entschädigung – und trifft auf Hürden

Nach dem Ende des Krieges bemüht sich Benjamin Olonetzky in Deutschland um Entschädigung. Mehr als 20 Jahre lang korrespondiert er mit dem Landesamt für die Wiedergutmachung in Stuttgart. Das blockiert, wo es geht, lehnt Anträge immer wieder ab, bevor sie dann doch genehmigt werden. Für 20 Monate Zwangsarbeit bekommt er 3000 Deutsche Mark – für die weiteren 36 Monate geht er leer aus.

Die Begründungen des Amtes machen Nadine Olonetzky sprachlos. In einem Aktenvermerk steht über die Ausbildung ihres Vaters: „[Moritz Olonetzky] war im Jahre 1938 verarmt, dass Verfolgungsmaßnahmen wesentlich dazu beigetragen haben, ist unwahrscheinlich.“ Moritz Olonetzky habe seinem Sohn also die Ausbildung nicht finanzieren können – dass er wegen der Verfolgung seine Arbeit verlor und Zwangsarbeit leisten musste, steht damit laut Landesamt nicht in Verbindung.

Nadine Olonetzky hat die Geschichte ihrer Familie in einem Buch aufgeschrieben. /Patrick Gutenberg

„Die Formulierung der Sätze ist wirklich unwahrscheinlich hart gewesen“, sagt Nadine Olonetzky beim Gespräch über ihre Recherchen. „Stellen Sie sich vor: Ich stehle Ihnen alles, was Sie haben, Sie müssen fliehen, bauen sich vielleicht ein neues Leben auf.“ Wenn man ein wenig Entschädigung wolle, folgen Fragen: „Wer sind Sie denn überhaupt? Beweisen Sie erst mal, was sie alles besessen haben.“ Nur sei es eben schwierig, das zu beweisen, wenn man alles verloren habe.

Sie habe lange Angst davor gehabt, sich mit der Geschichte ihrer Familie auseinanderzusetzen, erzählt Nadine Olonetzky. Doch irgendwann habe sie unbedingt wissen wollen, was geschehen war. „Ich dachte: Das kann nicht in mir drin bleiben.“ Das Recherchieren sei schwierig gewesen. Auch weil sich immer wieder Widersprüche aufgetan haben, sagt sie. Oft habe sie sich fragen müssen, was denn nun stimmt. Doch beim Schreiben sei es besser geworden: „Das war so wichtig, andere daran teilhaben zu lassen.“ Ein Stück weit sei es befreiend gewesen. „Ich weiß mittlerweile viel mehr, als mein Vater wissen konnte“, sagt sie.

Zuerst habe sie nicht gewusst, ob ihr Vater und dessen Geschwister ebenfalls einen Stolperstein bekommen würden – immerhin konnten sie fliehen. Doch sie beharrte darauf, denn: „Die Flucht meines Vaters ist eine unglaubliche Geschichte“, wie sie sagt. Das sahen auch die Stolperstein-Initiativen in Stuttgart so. Deshalb wurden für Benjamin Olonetzky und seine Geschwister in Stuttgart ebenfalls Stolpersteine verlegt.

Nur der Stein für Anna Olonetzky fehlt. Über das drittälteste Kind ihrer Großeltern weiß Nadine Olonetzky wenig. Nur so viel: Mitte der 1920er Jahre zieht Anna nach Berlin. Von dort aus werden sie, ihr Mann und ihr Sohn 1941 nach Łódź gebracht. Sie sterben vermutlich 1942 im Vernichtungslager Chelmno in der Gaskammer. Auch sie soll einen Stolperstein bekommen. In Berlin. „Dort gibt es eine riesige Warteliste“, sagt Nadine Olonetzky. Doch auch sie und ihre Familie bekommen einen. Sie weiß nur noch nicht, wann.

Das Buch

Das Buch
„Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist“ erscheint am 24. April 2024 im S. Fischer Verlag. Auf ‎448 Seiten beschreibt Nadine Olonetzky, wie sie von der Geschichte ihrer Familie erfährt und sich durch die Archive gräbt, um mehr davon aufzudecken.

Die Autorin
Nadine Olonetzky wurde 1962 in Zürich geboren. Sie schreibt hauptsächlich über Fotografie, Kunst und Kulturgeschichte. Unter ihren Werken sind Sachbücher und literarische Bücher. Außerdem hat sie schon mehrere Fotobücher herausgegeben.

Die Lesung
Am 29. April finden im Literaturhaus Stuttgart eine Lesung und ein Gespräch mit der Autorin statt. Um 19.30 Uhr beginnt die Veranstaltung, der Eintritt kostet 14, 12 oder 7 Euro. Die Veranstaltung wird im Livestream übertragen, für den ist ebenfalls ein Ticket notwendig.