Moskau und Kiew streiten weiter über den Preis russischer Erdgaslieferungen. Bei den Gesprächen steht auch die Energieversorgung einiger EU-Staaten auf dem Spiel. Die Gaslieferung von Ost nach West könnte dauerhaft gestört werden.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - Der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine unter Vermittlung der Europäischen Union bleibt weiter ungelöst. Der ukrainische Energieminister Juri Prodan und sein russischer Kollege Alexander Nowak konnten sich in der Nacht zum Dienstag bei fast achtstündigen Verhandlungen in Brüssel nicht auf den Preis künftiger Erdgaslieferungen und auf die Begleichung ukrainischer Schulden für frühere Lieferungen einigen. „Leider haben wir keinen Schritt nach vorn gemacht“, sagte Prodan. Der russische Minister Nowak sagte, dass bei der fünften Verhandlungsrunde das erste Mal überhaupt über Preise gesprochen worden sei. Die von Energiekommissar Günther Oettinger vermittelten Gespräche sollen heute fortgesetzt werden.

 

Das Szenario ist den Europäern nur allzu gut bekannt. Schon zwei Mal hat Russland dem Nachbarland Ukraine den Gashahn abgedreht. Beide Male hieß es aus Moskau, Kiew habe seine Rechnungen nicht bezahlt und würde zudem unerlaubt Gas abzapfen. Vor allem in Südosteuropa, wo die Abhängigkeit von russischen Lieferungen am größten ist, kam es in den Wintern 2005/2006 und 2008/2009 zu Engpässen. Manche Unternehmen mussten damals sogar die Produktion einstellen. Länder wie Rumänien, Ungarn oder die Slowakei verfügen – im Gegensatz zu Deutschland – über sehr wenig Speicherkapazität und beziehen fast hundert Prozent ihres Gases aus Russland.

Auch im aktuellen Konflikt geht es um nicht bezahlte Rechnungen, und die Politik spielt ebenfalls eine gewichtige Rolle, doch hat die Auseinandersetzung dieses Mal eine weitaus größere Tragweite. Russland hat völkerrechtswidrig die Krim annektiert, der Westen droht deshalb mit Sanktionen, es stehen russische Truppen an der Grenze zur Ukraine, und in dem Land selbst droht noch immer ein Bürgerkrieg. Europa befindet sich in der größten politischen Krise seit dem Ende des Kalten Krieges. Die problemlose Gaslieferung von Ost nach West könnte also auf Dauer gestört werden – eine fatale Situation, denn die Abhängigkeit von Russlands Gas ist groß.

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40 Prozent des Erdgases für die EU kommt aus Russland

Insgesamt zahlen die EU-Staaten jeden Tag rund eine Milliarde Euro für den Import von Energie, Tendenz steigend. Ein Drittel des Rohöls und 40 Prozent des Erdgases kommen dabei aus Russland.

Als Reaktion auf die Krise hat die EU-Kommission beschlossen, bis zum Winter in einem Stresstest die Anfälligkeit der europäischen Gasversorgung zu untersuchen. Vorgesehen sind Notfallpläne für alle 28 EU-Staaten sowie mehr Speicher. Das Ziel sei, so die Aussage von EU-Energiekommissar Oettinger, eine langfristige Strategie zur Sicherung der Energielieferungen zu entwickeln. Er wirbt für einen Ausbau von Gasleitungen zwischen den EU-Staaten, die die Versorgungssicherheit für alle Staaten gewährleistet – eine Art „Solidaritätsmechanismus“. Auch die G-7-Industrieländer wollen unabhängiger von russischem Gas werden; mit neuen Pipelines, Schiefergas-Förderung (Fracking) und Flüssiggas aus Katar oder den USA.

In der Krise wird auch deutlich, dass Russlands Präsident Putin über Jahre daran gearbeitet hat, die Abhängigkeit des Westens von russischen Energielieferungen auszubauen. So wurde mit Hilfe des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder die North-Stream-Pipeline gebaut, auf der anderen Seite wurde das Konkurrenzprojekt Nabucco schon in der Planungsphase gestoppt. Allerdings hat Putin nur scheinbar alle Trümpfe in der Hand. Die russische Wirtschaft ist einseitig auf den Verkauf von Energie ausgerichtet, der fast die Hälfte des Staatshaushaltes ausmacht. Und rund 80 Prozent der Energieexporte gehen in Richtung Westen – ein plötzlicher Stopp würde den Ruin des Landes bedeuten.

Der Kreml will sich stärker gen Osten orientieren

Die Drohung war nicht zu überhören. Statt nach Europa, so erklärte Russlands Premier Dimitri Medwedew dieser Tage vollmundig, könne Moskau sein Gas statt nach Europa in Zukunft nach China liefern. Eine grundsätzliche Umorientierung der Exporte von Europa nach China sei „theoretisch“ durchaus möglich. Während Medwedew den verbalen Hammer schwang, unterzeichnete Putin in Peking einen mehrere Hundert Milliarden Dollar schweren Gasdeal mit den Chinesen. 30 Jahre lang wird Russland fast 40 Milliarden Kubikmeter Gas an den östlichen Nachbarn liefern. Doch die von Russland aufgebaute Drohkulisse ist eher ein Potemkinsches Dorf. „Ich erwarte durch diesen Vertrag keine unmittelbaren Konsequenzen für Europa“, sagt Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin für Energie, Umwelt und Verkehr am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. „Wir haben zurzeit ein Überangebot an Gas auf den internationalen Märkten.“ Kemfert erklärt weiter: „Es ist legitim, dass Russland diversifiziert und versucht, seine Abhängigkeit vom Abnehmer Europa zu reduzieren.“ Europa müsse jetzt seinerseits entschlossen weiter diversifizieren und sich Gas aus dem kaspischem Raum, Nordafrika oder aus den Vereinigten Staaten beschaffen.

Und auch die von Medwedew angedrohte Umorientierung Russlands sehen die Experten in Europa äußerst gelassen. Es werden viele Jahre vergehen, bis Moskau tatsächlich Gas in großen Mengen nach China liefern wird. Der Grund: im Moment gibt es keine direkte Gaspipeline von Russland nach China. Aus diesem Grund müssen nach Putins Worten erst einmal rund 70 Milliarden Dollar in die Infrastruktur investiert werden, bevor das erste Gas in etwa vier Jahren durch neu gebaute Pipelines fließt. Das Gas für China wird dann voraussichtlich aus neu erschlossenen Feldern im abgelegenen Ostsibirien kommen – und nicht aus den Vorkommen in Westsibirien aus denen sich die Lieferungen für Europa speisen.

Zudem ist China verglichen mit Europa noch ein kleiner Abnehmer. Russland liefert pro Jahr knapp 130 Milliarden Kubikmeter Gas in die EU, plus 40 Milliarden an die Türkei – das ist mehr als viermal so viel wie der neue Vertrag für China vorsieht.