Her mit der Jugend: Burkhard Kosminski, Intendant des Stuttgarter Schauspiels, will der Überalterung des Publikums nicht tatenlos zusehen. Im Rahmen einer Schuloffensive wirbt er im Vaihinger Fanny-Leicht-Gymnasium für sein Theater.

Stuttgart -

 

Schule ist wie Theater: aufregend, pulssteigernd, auch wenn man kein Schüler mehr ist. „Wenn ich in die Klasse gehe, spüre ich einen Adrenalinstoß“, sagt Burkhard Kosminski, der vor vierzig Jahren Abi gemacht hat und jetzt vor einer Old-School-Kreidetafel sitzt. Vor ihm allerdings keine Schüler, sondern fünfzig Lehrer und Lehrerinnen an eng stehenden Zweierpulten: Freitagnachmittag im Fanny-Leicht-Gymnasium in Stuttgart-Vaihingen, wo die Lehrerkonferenz unter Leitung des grundsympathischen Rektors Guntram Haag den Schauspiel-Intendanten als Gast begrüßt. Kosminski ist gekommen, um schnurgerade für seine Sache zu werben. „Jeder Schüler“, sagt der adrenalingedopte Bühnenchef, „muss mindestens ein Mal im Jahr ins Theater gehen“ – und die Lehrer sollen ihm bei der Planerfüllung helfen, indem sie mit ihren 800 Schützlingen die Aufführungen sowie begleitende Workshops besuchen.

Leicht gesagt, schwer getan. Jeder Theatergänger, egal in welcher Stadt, weiß es: In Repertoire-Vorstellungen großer Häuser verirren sich kaum noch Menschen, die unter dreißig, vierzig sind. Ältere Herrschaften bleiben unter sich, Jüngere fehlen. Die schleichende Vergreisung, von der auch das Stuttgarter Schauspiel betroffen ist, will Kosminski nun mit einer ambitionierten Schuloffensive aufhalten.

Seit Saisonbeginn hat er in aufklärerischer Mission 16 Grund- und Förderschulen, Realschulen und Gymnasien im Umkreis von dreißig Kilometern besucht. „Ohne Vermittlung und Vermarktung hat das Theater keine Zukunft. Das kostet mich die Hälfte meiner Zeit“, sagt Kosminski – das ist bemerkenswert insofern, als sich unter den Groß-Intendanten anderswo kaum einer finden dürfte, der sich mit vergleichbarer Verve ins Projekt Publikumsverjüngung stürzt. Den Fronteinsatz an Schulen überlassen sie normalerweise ihren Theaterpädagogen. Nicht so der Menschenfänger Kosminski, der im übrigen die andere Hälfte seiner Zeit gerade nutzt, um die Uraufführung von Noah Haidles „Weltwärts“ Ende Februar auf die Bühne zu bringen.

Charme-Offensive mit Pizza

In der Zuschauer-Intensivbetreuung hat er freilich Übung. Als Kosminski im Herbst 2018 das Schauspiel übernahm, war er geschockt von der unter seinem Vorgänger Armin Petras dramatisch gesunkenen Zahl der Abonnenten. Nicht nur ökonomisch, auch atmosphärisch bilden die treuen, sich fest ans Haus bindenden Kunstliebhaber das unabdingbare Fundament jedes Theaters. Die Abonnenten mussten also zurückgewonnen werden, weshalb der neue Chef mit Amtsantritt sogleich seine „Hausbesuche“ startete. Eingeladen von Privatleuten, begab sich Kosminski in deren Privatwohnungen zu Privatessen, um sich und sein Programm vorzustellen und darüber zu diskutieren. Das hat sich gelohnt: Die Zahl der Abos stieg von 2219 zuletzt unter Petras auf jetzt 3483, ein Zuwachs von schier unglaublichen 57 Prozent. Auch wenn der Erfolg vor allem den sehenswerten Theaterarbeiten zu verdanken ist, hat Kosminskis Charme-Offensive zwischen Vier-Gänge-Menü da und Pizza aus der Hand dort ihren Teil zur Rückeroberung der Zuschauer beigetragen. Die Hausbesuche laufen in dieser Spielzeit weiter.

Neu im Programm aber: Schulbesuche. Zehn Minuten lang lockerer Frontalunterricht mit Kosminski, der dem Kollegium des Fanny-Leicht-Gymnasiums die Bedeutung von Kultur für die Gesellschaft („neben Sport die zweite Säule des sozialen Zusammenhalts“) erklärt und seine Angebote präsentiert. Horváths „Italienische Nacht“ etwa, das Stück über den aufkeimenden Faschismus in der Weimarer Republik, könne man umstandslos in den Deutsch-, Geschichts- und Sozialkundeunterricht integrieren. „Sie kommen mit den Klassen in die Vorstellung und sagen uns, ob Sie eine Vor- oder Nachbereitung wünschen, bei uns im Theater oder bei Ihnen in der Schule“ – und der Theaterpädagoge Tobias Rapp zur Rechten des Intendanten versichert, dass er mit seinem Team innerhalb weniger Tage einen entsprechenden Workshop mitsamt Partizipationsprojekt auf die Beine stellen könne: kein Problem!

Tagsüber unterrichten sie, abends sind sie tot

„Was können wir noch für Sie tun? Was fehlt Ihnen?“ fragt der Intendant in die Runde. Nichts, lautet die Antwort, nichts, denn die Lehrer sind von der Qualität der umfangreichen Service- und Vermittlungsarbeiten des Theaters – Gespräche, Führungen, Fortbildungen, Materialmappen et cetera – vollkommen überzeugt. „Das Angebot ist gigantisch“, sagt eine Kollegin und erntet prasselnden Beifall, „dass wir es trotzdem wenig nutzen, hat andere Gründe.“ Es sind die Rahmenbedingungen des Lehrerdaseins, die das auffallend junge Kollegium bei der Beschäftigung mit dem Theater zögern lassen: „Tagsüber unterrichten wir, abends sind wir tot“ – und dieser Erschöpfung kann auch Kosminski beim besten Willen nicht abhelfen. Dass Schulvorstellungen aber nicht mehr abends, sondern nachmittags stattfinden, das kann er ändern. Dass kranke Kinder, die nicht mit ins Theater können, ihr Geld zurückerstattet bekommen, auch. „Wir werden das lösen“, verspricht der für seinen Pragmatismus bekannte Schauspiel-Chef.

Atmosphärisch ist das Fanny-Leicht-Gymnasium, das zu Recht stolz ist auf seine breite musische Ausbildung, für Kosminski ein Heimspiel. Es empfängt ihn mit offenen Armen, muss ihn aber doch mit – vorerst – leeren Händen entlassen. Keine konkrete Vereinbarung eines Theaterbesuchs, kein auf den Weg gebrachter Workshop, keine Materialanfrage. Der Teufel steckt im Detail. Entmutigen lässt sich der Intendant aber nicht. Der Nahkampf geht in die Verlängerung: Noch fünf fix vereinbarte Schulbesuche stehen auf der Liste der mit persönlichem Einsatz vorangetriebenen Kids-ins-Theater-Tournee, weitere können jederzeit folgen. Und warum sollten sie sich am Ende nicht doch so wunderbar auszahlen wie die erfolgreichen Hausbesuche?