Erst in der letzten Periode hat der Landtag das Instrumen des Volksantrages geschaffen. Bei der Reform der Abgeordneten-Versorgung wurde es offenbar nicht bedacht. Nun droht Grünen, CDU und SPD ein böses Erwachen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Reinhold Gall (SPD) war noch Innenminister, als er Ende 2015 im Landtag die erweiterten Mitspracherechte für die Bürger lobte. Besonders hervorheben wolle er das Instrument des Volksantrags, bei dem gerade mal 38 000 Stimmen genügten, um ein Anliegen auf die Tagesordnung des Parlaments zu bringen. „Ich bin gespannt“, sagte Gall, „wann wir uns in diesem Haus zum ersten Mal mit einem Thema befassen werden, das auf diese Art und Weise an uns herangetragen wird.“ Auch sein Fraktionskollege Sascha Binder würdigte die „niederschwellige Möglichkeit“, den Landtag mit Themen zu beschäftigen, „die einer großen Zahl von Menschen auf den Nägeln brennen“. Ähnlich positiv äußerten sich die Redner von CDU, Grünen und FDP.

 

Danach geriet der Volksantrag bald wieder in Vergessenheit. Mitte 2016 startete zwar eine Initiative, auf diese Weise gegen das Handelsabkommen Ceta zu mobilisieren, aber davon hörte man bald nichts mehr. Keine der Fraktionen dachte offenbar daran, dass das Instrument bei einem überaus sensiblen Thema zum Einsatz kommen könnte: den am Freitag im Eilverfahren beschlossenen umstrittenen neuen Finanzregeln für die Abgeordneten.

Mitglieder protestieren bei den Parteizentralen

Erst kurz nach der finalen Abstimmung prüfte die Landtagsverwaltung auf Anfrage der Stuttgarter Zeitung, ob eine Volksinitiative gegen die „Luxuspension“ (Bund der Steuerzahler) möglich sei – und bestätigte es grundsätzlich. Zum gleichen Ergebnis kamen der Verein Mehr Demokratie und der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim: Ganz eindeutig falle das Abgeordnetengesetz unter die „Gegenstände der politischen Willensbildung“, über die die Bürger eine Debatte erzwingen könnten. Der Bund der Steuerzahler, einer der schärfsten Kritiker der erweiterten Versorgung, ging noch einen Schritt weiter: Man prüfe bereits, „einen Volksantrag zu initiieren“.

So stand es am Samstag in der Zeitung – und wirkte prompt. Allein die Aussicht darauf genügte, um bei den an dem Beschluss beteiligten Parteien Alarmstimmung auszulösen. Bereits seit Tagen waren Grüne, CDU und SPD mit Protesten ihrer Mitglieder bombardiert worden. Tenor: Diese Art der Selbstbedienung gehe zu weit, zumal im Wahljahr sei sie völlig instinktlos. Doch die Fraktionen ließen sich nicht beirren und schufen Fakten. Augen zu und durch, hieß die Devise. Wie noch jedes Mal werde sich die Aufregung nach einigen Tagen legen, die Wähler vergäßen schnell.

Fraktionen scheuen die Debatte

Niemand bedachte offenbar, dass ein Volksantrag dieses Kalkül durchkreuzen könnte. Bei einem Erfolg würde dieser zunächst zwar nur bewirken, dass die bewusst kurz gehaltene Debatte noch einmal geführt werden müsste – dann aber ausführlicher. Doch genau davor haben die Volksvertreter erkennbar Angst. Im Plenum vermieden sie es vorige Woche, sich mit den zentralen Argumenten der Kritiker auseinanderzusetzen. Vergeblich fragte auch das SWR-Fernsehen nach einem Fraktionsvertreter, der die Reform in der Sendung „Zur Sache“ vertreten solle. Als Ersatz sprang ein kundiger SWR-Reporter ein. Bald kursierte auch eine weitere Sorge: Wer sollte sich am 1. Mai, wie im geänderten Gesetz vorgesehen, für den Wechsel von der kargen Eigenvorsorge zur lukrativen Staatspension entscheiden, wenn noch eine Welle des Bürgerprotestes dagegen rollte?

Mit wem man am Wochenende auch sprach: Alle Akteure gingen davon aus, dass die knapp 40 000 Unterschriften locker zusammen kämen. Ein Jahr lang hätte man dafür Zeit, doch angesichts der breiten Empörung würden womöglich wenige Wochen reichen. „Ich bin dabei“, posteten Genossen auf Facebook, und sogar CDU-Kreischefs kündigten an, eine solche Initiative zu unterstützen. Auch bei den Grünen, in Fällen von Machtmissbrauch früher besonders sensibel, liefen die Telefone heiß. Die Anrufer wurden kühl an die Fraktion verwiesen, nach dem unausgesprochenen Motto: Wer uns die Suppe eingebrockt hat, soll sie auch auslöffeln. Erschrocken wurde in allen drei Landeszentralen gefragt, wie man den Populisten nur eine solche „Steilvorlage“ habe liefern können. Es gelte den Schaden zu begrenzen – aber wie?

SPD bangt um den Erfolg mit Schulz

Während die anderen Parteien noch ganz auf die Bundespräsidentenwahl fixiert waren, ergriff die Südwest-SPD die Initiative. Für sie ist die Debatte um die Abgeordnetenversorgung schließlich besonders gefährlich: Mitten im Aufschwung dank dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz droht in Baden-Württemberg massives Störfeuer. Wie solle man die Rente glaubhaft zum Wahlkampfthema machen, wurde bang gefragt, wenn die eigenen Parlamentarier gerade in die Staatspension flüchteten? Nach einer eilig angesetzten Schaltkonferenz ging die neue Landeschefin Leni Breymaier öffentlich auf Distanz zur Fraktion. „Die jetzigen Änderungen überraschen schon“, ließ sie sich zitieren. „Ich hätte das nicht so gemacht.“ Dezent im Ton, aber deutlich in der Sache setzte sie sich damit von den Abgeordneten ab. Garniert wurde das mit der Empfehlung, eine Kommission solle die unterschiedlichen Systeme der Altersvorsorge einmal gründlich untersuchen.

Was sagt Kretschmann zur Misere?

Bei Grünen und CDU herrschte am Sonntag dagegen noch Ratlosigkeit. Ein frisch beschlossenes Gesetz gleich wieder zu kippen – wie solle das gehen? Ohne einen gewaltigen Gesichtsverlust sei das kaum möglich. Doch das Debakel werde womöglich noch größer, wenn man sich jetzt stur stelle und erst vom Volk zum Einlenken gezwungen werde, warnten Strategen. Mit Spannung wird erwartet, was Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Dienstag nach der Kabinettssitzung zu der Misere sagen wird. Per SWR hatte ihn der Parteienkritiker von Arnim bereits aufgefordert, seinen Leuten ins Gewissen zu reden. Nachmittags ist dann auch bei den Fraktionen Krisenmanagement angesagt – mit Ausnahme der FDP, die gegen die Rückkehr zur Pension votierte. Nur bei der AfD, die alle neuen Regelungen ablehnte, dürfte die Stimmung gut sein. Dank dem übersehenen Volksantrag ist das Geschenk, das ihnen die Parteien gemacht haben, noch größer als gedacht.